Eine Zürcher Liebeserklärung an Bern

Sunday, November 5th, 2017

Uns gefällt dieser Artikel des Tages Anzeigers wunderbar:

Eine Stadt wie neu

Sportlich erfolgreich, kulturell bestechend, politisch solid: Die Hauptstadt ist wie verwandelt. Bloss hat es noch kaum jemand bemerkt.

Morgen (am 4.11.17 Anmerkung von uns), kurz vor 16 Uhr, betreten elf Männer in gelb-schwarzen Trikots den Fussballplatz im Basler St.-Jakob-Park. Es ist Spitzenkampf in der Meisterschaft. FC Basel gegen BSC YB, der Seriensieger gegen den ewigen Zweiten, die Millionäre gegen, nun ja, die Berner.

Alle paar Wochen kommt es zu dieser Paarung. Aber diesmal ist etwas anders: YB ist Favorit. Die Young Boys liegen vorn in der Tabelle, Basel sieben Punkte dahinter, am Sonntagabend könnten es schon zehn sein.

Und noch etwas ist neu. Gab es in den letzten Jahren kaum eine Saisoneröffnung, ohne dass YB-Funktionäre, -Spieler oder wenigstens die Fans ihre Ambitionen auf die Meisterschaft anmeldeten, nimmt heuer niemand das M-Wort in den Mund. Nicht im Verein, nicht in der Kurve, noch nicht mal beim Bier in der Beiz. Bern reisst sich zusammen. Ball flach halten. Füreluege. Schpiu für Schpiu. Hopp YB!

Die neue Sachlichkeit

Etwas ist in Bewegung geraten in Bern. Etwas Grundlegendes. Die Stadt, die sich selbst so innig liebt, dass es schmerzt; die im Stillstand stets den Idealzustand sah; die das Jammern und Lavieren immer dem Handeln vorzog; diese Stadt erlebt gerade eine Verwandlung. Was es ist, was da kommt? Nennen wir es: neue Sachlichkeit.

Man sieht sie nicht nur im biederen, aber effektiven Spielsystem, mit dem YB-Trainer Adi Hütter seine Söldnertruppe auflaufen lässt. Man kann sie jetzt auch im Kunstmuseum Bern bestaunen. Schlichte, weisse Rahmen fassen die Werke ein, die seit dieser Woche die Räume im Museum schmücken – und die im Mattequartier ebenso zu reden geben wie in London und New York.

Dreieinhalb Jahre sind vergangen, seit das Kunstmuseum Bern erfuhr, dass es die gesamte Sammlung von Cornelius Gurlitt, dem Sohn des Nazikunsthändlers Hildebrand Gurlitt, erben sollte. Ein Blitz aus dem Nichts. Rund 1500 Werke, viele unbekannt. Der alles überschattende Raubkunstverdacht. Die Titanenarbeit der Provenienzforschung. Die schwierige Restaurierung. Das finanzielle Risiko. Dazu ein erbitterter Erbstreit mit einer Cousine Gurlitts.

Auch international renommierte Museen wären überfordert gewesen. Doch Bern packte die Sache an und erledigte sie. Ohne Murren. Und ganz ohne Hilfe des Bundes. Nicht die Beamtenmentalität, nicht die Bedenken hätten sich durchgesetzt, lobte der «Bund»-Chefredaktor diese Woche. Gesiegt habe der Mut.

Der Stapi beim Bädele

Eine Entkrampfung ist auch in der Berner Stadtpolitik erkennbar. Wobei es etwas verwegen wäre, sie dem Wirken des neuen Stadtpräsidenten Alec von Graffenried (Grüne) zuzuschreiben. AVG, wie er gerufen wird, erntet bisher hauptsächlich Zuspruch dafür, wie gäbig viel Zeit er im Schwimmbad Marzili verbringt. AVG nennt das: «E Bedu go zwicke.»

Dass es etwas seriöser und konzentrierter zu- und hergeht, liegt vorab daran, dass sich die Reizfigur Alexander Tschäppät (SP) aus dem politischen Alltag verabschiedet hat. An wem will sich die bürgerliche Opposition noch reiben? Am Mann in der dunkelblauen Badehose?

Tauwetter überall. Wo Journalisten einst in jedem Demo-Gerücht einen ­Anlass sahen, Tschäppät zur Rede zu stellen, begnügen sie sich heute damit, die Communiqués der Stadtregierung sauber zusammenzufassen.

Die Krawall­jugend, die früher in schöner Regelmässigkeit das Kräftemessen mit der Polizei suchte, ist vor kurzem dazu übergegangen, den eigenen Umzügen fernzubleiben. Die Polizei steht nur noch herum. Und die Reitschule, die gerade ihr 30-jähriges Bestehen feiert, freut sich, dass AVG findet, das Jubiläum sei ein «Anlass zur Freude».

Es sind ja auch gute Zeiten. Die marode Airline Skywork darf weiterfliegen. Es wird tüchtig gebaut und investiert in Bern. Die Stadt wächst. Die Bilanz ist mit einem Überschuss von 104 Millionen Franken wieder im Lot. Ja, die Gemeinde hat in den letzten Jahren so unverschämt viel Eigenkapital angehäuft, dass ein SP-Stadtpolitiker unlängst während einer Sitzung völlig aus der Fassung geriet und f ü r eine Steuersenkung stimmte. Klar, unter dem Druck seiner Sozialdemokraten kam der Irrläufer rasch wieder zur Besinnung, wie die «Berner Zeitung» berichtete. Aber dennoch, die Dinge sind in Bewegung geraten.

Wann es angefangen hat, ist schwer zu bestimmen. Woher die Bewegung kommt? Wahrscheinlich von der Jugend. Von Leuten wie Michael Egger. Er ist Sänger und Texter von Jeans for Jesus, der Berner Band der Stunde. Mit «PRO» habe sie diesen Frühling «locker das beste und bedeutendste Album im Berner Mundartpop seit Mitte der 90er-Jahre» veröffentlicht, schrieb Tagesanzeiger.ch/Newsnet.

Aber Bern, so als Gefühl, als warmes Nest und stickiges Kaff? Man findet es kaum bei dieser Band. In einem Song des Debütalbums gibt es aber eine feine Anspielung auf die Befindlichkeit der lokalen Adoleszenz. «Sie wott wäg gah / zum zrügg cho / und gläbt z ha.»

Flucht im Intercity

Dieser Michael Egger hat gewagt, was kein Polo, kein Kuno, kein Büne vor ihm tat: Er zog nach Zürich. Einfach so. Und da stellt sich natürlich die Frage: Singt Egger über sich selbst? Noch ein bisschen Abenteuer, dann wieder heim? «Ich bin nicht sicher», sagt Egger. Weggezogen sei er aus verschiedenen Gründen. Job, Umfeld, Neugierde. «Der ominöse Bern-Hassliebe-Koller ist auch dabei. Seit ich 13 bin, treibe ich mich in Bern herum. Ich kenne alles, und alles ist super. Aber 30 werden in Bern – das wäre für mich schwierig gewesen.»

Es könnte der grosse Unterschied sein zu früher. Die Alten im Berner Rock sangen über Casablanca und fantasierten von der grossen Flucht via Flugplatz Bälpmoos, doch sie hängen immer noch in der Aareschlaufe. Die Jungen träumen ein bisschen weniger gross, dafür schaffen sie den Absprung. Mit dem Intercity über die Neubaustrecke. Ganz sachlich.

«Provinzialität ist kein Berner Thema», sagt Egger, «eher eines der Deutschschweiz, wahrscheinlich aber ein globales.» Bern ist überall.

Ein Volk im Wartezustand

So hat sich in der Bundesstadt auch die Rivalität mit Zürich etwas abgekühlt. Das zeigt die Geschichte der Gelateria di Berna. 2010 gegründet, eroberte sie die Stadt im Sturm. Wann immer eine ihrer inzwischen vier Filialen geöffnet ist, bilden die Berner eine Schlange. Das Gelato ist dabei nebensächlich. Es ist das Anstehen an sich, dem man sich mit viel Hingabe widmet. Das Warten als konsequenteste Form der Langsamkeit, der Berntümelei. Ein Ritual, eine performative Selbstvergewisserung: Hier warten wir, und deshalb sind wir Berner.

Als die Gelateria die Berna in diesem Frühling einen Satelliten am Brupbacherplatz in Zürich eröffnete, geschah etwas Irritierendes. Auch die Zürcher warteten, auch sie stundenlang. Ein Trubel entbrannte. Reporter fuhren hinaus nach Wiedikon. Kamerateams folgten. Es gab Liveschaltungen in die Schlange. Gastrokritiker urteilten. Wirtschafts­redaktoren sprachen von Disruption im ansonsten «mediokren» Glacemarkt.

Warten auf die Glace

Und die Berner? Die waren perplex. Wenn jetzt auch die Zürcher auf ihr Gelato warteten, vielleicht noch geduldiger als die Berner, was hatte das zu bedeuteten? War da eine Appropriation im Gang? Eine feindliche Übernahme einer kulturellen Praktik? Diesmal fühlte sich Bern nicht bedroht, sondern bestätigt. Sollen die Zürcher nur warten. Wir waren zuerst. Wir warten schon viel, viel länger.

Aber vielleicht hat das Warten jetzt doch mal ein Ende. Jedenfalls jenes auf den nächsten YB-Meistertitel, den ersten seit 1986. Morgen ein Sieg in Basel, und man könnte – Sachlichkeit hin oder her – schon fast von einer Vorentscheidung sprechen. Schön wärs. Und wenn nicht, dann eben nicht. Es gibt ja immer noch den SC Bern.

(Tages-Anzeiger)

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